Dem “Eisernen Steg”
von
Fritz von Unruh
1926

Oft in der Frühe horche ich über die Stadt, sehe ihre Türme mit den glänzenden Uhren im Sonnenaufgang, sehe den breiten, fließenden Strom. Wie freue ich mich seiner Gewalt! Die Gedanken der Nacht, Pläne, halbvollendete, das Stückwerk der Kraft - alles nimmt er hinweg - aber die Sehnsucht auch bringt er Dir...Ozean!
Unselig die Stadt ohne Strom! sie hat keine Quelle und keine Erlösung - ihre Häuser verbindet kein Zeichen der Hoffnung.
Selig, selig Du, mit Deinen Brücken, den ragenden Mahnern jenes anderen Bogens, der Noah das Ende der Sintflut verhieß. Schwebende Wölbung - immer bist Du bereit, hinüberzutragen jede Last unserer Schwere. Und doch schleichen die Menschen so bleich und gebückt aus den Gassen zu Dir. Wie müde ist ihr Gesicht! Eine eherne Rute treibt sie an Deine windtönende Harfe an. Und dann stutzen sie...Ja! einen Augenaufschlag schweifen auch ihre Blicke am Ufer einher, als könntest Du sie fortheben über den dunklen Fluß ihres Lebens. Doch schon schreit der Fabriken gellender Ruf, und - wie sich des Lehrers magere Hand dem Knaben erhebt, der sich vorm Schulhaus noch einmal niederwarf in den Traum - so drohen von drüben die steinernen Finger! Mit gläsernem Staunen, wie Bürger, die in der goldenen Gartenkugel zum ersten Mal verzerrt sahen ihre Gestalt - gehen sie weiter und grinsen. Freuen sich, wenn unter dem eisernen Steg, über den sie nun alle hinübermüssen, der zeichnende Spiegel im Wasser tränenverschwommen ihre gekrümmte Not vergebens vertieft. Ach, sie fühlen den Schreck nicht mehr vor dem Sturz und dem Fall in die Tiefe! Täglich trotten sie über den Abgrund dahin - immer zur Arbeit, immer zum Tod!
Hinter den Stirnen erloschene Feuer! Nur der Neid stiert den spielenden Möven nach, oder den Kindern am Kai, denen jeder Sonnenstrahl noch ein Geburtsstern ist.
Ein Geschlecht grauer Katzen schlüpft blinzelnd über Dich fort, heilige Brücke! ihnen nach zittert Dein Eisen - aber nicht vom Schlag vieler, freudiger Herzen - vom widren Gewicht gemordeter Stunden ächzt Dein schlankes Gefüge, und schaudert.

(Quelle: Unruh, Fritz von, Dem “Eisernen Steg”, in: Der Eiserne Steg. Jahrbuch 1926, Frankfurt am Main 1926, S. 9f.)


[Startseite] [Geschichte] [Kunst] [Daten] [Bibliographie] [Kontakt]